Manuskript auf Reisen

Im Sommer 2015 stehe ich vor dem Postkasten Ecke Stadtstraße/Jacobistraße mit einem Stapel Großbriefe in Händen. Es ist heiß und ich bin irgendwie froh, dass kaum jemand an diesem Nachmittag unterwegs ist. Mein Großer tänzelt aufgeregt um den gelben Behälter herum. Ich übergebe ihm den ersten Umschlag, und er stopft ihn in den Schlitz. „Gute Reise!“, ruft er. Zwei, drei Mal macht er das, dann stimmt die Kleine ein: „Reise! Reise!“

Am Morgen neben dem Drucker musste ich plötzlich daran denken, wie tausende andere Menschen in Deutschland praktisch gleichzeitig mit mir gerade Exposés, Leseproben und Anschreiben drucken, eintüten und mit Porto versehen.

Nehmen wir mal an, die 3000 Verlage in Deutschland bekämen jede Woche fünf unaufgefordert eingesandte Manuskripte.

Also, fünf  Unaufgeforderteingesandtemanuskripte (oder gleich: UAEM) pro Woche wären 780.000 UAEM pro Jahr – macht übrigens rund 1,1 Millionen Euro Portoeinnahmen für die Post.

Lieber an alternative Fakten klammern: Jährlich kommen in Deutschland etwa 20.000 belletristische Neuerscheinungen auf den Markt, die Hälfte davon Übersetzungen – bleiben 10.000 echte Neue. Das sind doch gar nicht so wenige. Gute Reise, gute Reise!

Dummerweise sind das in den wenigsten Fällen UAEMs. Mein Lieblingszitat dazu stammt von dem ehemaligen Leiter eines großen Münchner Verlags, der auf die Frage, wieviele dieser ungebetenen Manuskriptvorschläge er denn in seinem langen Verlegerleben veröffentlich habe, antwortete:

„Vier in vierzig Jahren – wenn es hoch kommt.“

Damit lag er sogar noch über der „Erfolgsquote“ von 1:4000, die an anderer Stelle kolportiert wird.

Und trotzdem steht man da und sieht die Umschläge im Schlitz verschwinden und hofft, dass man es vielleicht doch unter die zwei bis drei Werke schafft, die in diesem Jahr dem UAEM-Schredder entgehen.