Entgegnung

28 sich als „Intellektuelle und KünstlerInnen“ Bezeichnende schreiben einen offenen Brief an Kanzler Scholz und gehen auf Stimmenfang: Unterschreiben Sie hier!

Sie sagen: Keine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, das würde Putin provozieren und dann seien wir Deutschen auch mit schuld am Dritten Weltkrieg. Keine Aufrüstung und Waffen, die den Krieg verlängern, denn dann seien wir mit schuld am fortgesetzten Leid der Zivilbevölkerung und der Zerstörung.

Gut gemeint, der Brief. Aber viel zu kurz gesprungen. Peinlich ist das. Zum fremdschämen.

Kann es sein, dass man einem Aggressor, der sich offensichtlich um nichts schert, kein Völkerrecht, kein Kriegsrecht, kein Menschenrecht, das gibt, was er sich gewaltsam holen will, nur damit Ruhe herrscht und man nicht schuldig wird? Was ist das für eine Motivation? Wir wollen nicht schuldig werden, unsere Unschuld bewahren und sauber da rauskommen. Kann es kriegerische Handlungen ohne Schuld geben, ohne dass alle Parteien auf die eine oder andere Art schuldig werden? Das ist doch eine Illusion.

Moralisieren, das ist einfach, und sich auf bequeme Gewissheiten berufen: „Bei allen Unterschieden einen weltweiten Frieden anstreben“. Ja, klar. Gute Idee. Funktioniert so lange, bis einer komplett ausschert. „Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.“ Ja, klar. Aber es gibt Systeme, die sind nicht miteinander vereinbar. Punkt. Das ist doch, was wir alle gehofft hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dass es möglich sei, die ganze Welt durch ökonomische Abhängigkeit so eng zu verflechten, dass es keiner wagen würde auszuscheren. Oder euphemistisch ausgedrückt: Wohlstand für alle!

Und natürlich wird sich auf unsere „historische Verantwortung“ berufen. Die Supermoralkeule. Dabei ist Deutschland doch das beste Beispiel dafür, was passiert, wenn man Aggressoren vom Kaliber eines Putin gewähren lässt und denkt, man könne sie beschwichtigen, wenn man ein bisschen nachgibt und sie ein bisschen gewähren lässt. Jetzt betreiben wir seit Jahrzehnten die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Haben die denn alle im Geschichtsunterricht gepennt? Haben die denn alle nicht die Romane gelesen, die Filme gesehen, die Kunstwerke angeschaut, die sich wieder und wieder damit auseinandergesetzt haben, wie das ist mit der Schuld und der Unschuld? Es ist nicht anzunehmen, angesichts der Namen der Unterzeichnenden.

Und dann das: die Briefschreiber wollen es nicht allein der Regierung eines fremden Landes überlassen, darüber zu entscheiden, ob die Bevölkerung leiden muss. Hat jemand mal die Bevölkerung gefragt? Sicher leidet die nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Aber gezwungen von Putin, nicht von ihrer eigenen Regierung. Täter-Opfer-Umkehr nennt man das. Fragt doch mal die Bevölkerung, ob sie sich ergeben wollen! Ja, die Ukraine will verhandeln, wollte vom ersten Moment an verhandeln. Und nichts bewegt sich. Je länger es geht, desto mehr steht zu befürchten, dass man Putin nur besiegen kann. Möglichst ohne Gesichtsverlust, sagen manche. Ich glaube nicht an einen Atomkrieg. Warum? Weil alle Menschen leben wollen. Zumindest fast alle. Russland will leben, nicht sterben. Russland ist nicht suizidal.

Ja, Menschen verletzen, quälen und töten ist falsch und schrecklich. Ja, Krieg ist falsch und schrecklich. Ja, Aufrüstung ist schrecklich und dass ein Wettrüsten im Grunde völlig sinnlos und damit auch falsch ist, haben wir in den Achtzigerjahren gesehen. Aber das ist doch gar nicht die Frage. Nicht mehr. Jetzt, da einer ausgeschert ist. 

We stand with Ukraine? Wir stehen hinter euch und sehen euch zu, wie ihr verliert. Ist schade, wenn ihr euch nicht wehren könnt. Ein bisschen kämpfen kann man ja schon, aber irgendwann muss man halt einsehen, dass es nicht reicht. Und hey, seht es doch positiv: Wenigstens seid ihr nicht tot. Das Leben geht weiter. Reframing macht das Leben schöner. Was du nicht ändern kannst, musst du akzeptieren. Und dann schreiben wir Protestnoten und Essays. Solidarität! Auf dem Papier. 

Die Frage ist doch: Wie weit würden wir gehen in unserer Solidarität? Und die verlangt etwas mehr intellektuellen Einsatz als lediglich das Aufsagen von bequemen Gewissheiten aus der Vergangenheit.

Der Text erschien am 4. Mai 2022 in der FAZ unter Briefe an die Herausgeber mit der Überschrift „Moralisieren ist einfach“.