Die Farbe der Sonne

Warum hat er mich nochmal so geküsst? Er hätte mich nicht so küssen müssen. Es gibt Küsse, auf die ist man vorbereitet. Man steht beieinander und spürt die Anziehung schon vorher, man spürt die Möglichkeit, den Abstand aufzugeben, die Spannung, die sich aufbaut – und dann das Nachgeben, der kurze Moment bevor sich die Lippen berühren. Die Schutzschicht der Lippen ist äußerst verletzlich, nur drei, vier Zellschichten dick, ein hauchdünnes Plattenepithel, durchscheinend. Das Rot, das Lippenrot, das machen die Blutgefäße. Alles sieht und spürt man durch diese dünne Schicht hindurch, das Leben des anderen, das mit dem Blut durch den ganzen Körper geht, nirgends kommt man sich so nah wie an den Lippen. Blanke Nervenenden. Alles kann über sie eindringen, sie sind schutzlos. Lippenherz nennt man die Vertiefung der Oberlippe, man meint nur die äußere Form und täuscht sich nicht. Kein Wort lässt sich bilden ohne die Lippen. Mit Worten kann man lügen, ohne Worte kann man lügen. Aber mit solch einem Kuss? Der Körper spricht ohne Worte.

Auf diesen Kuss war ich nicht vorbereitet. Wir hatten gesprochen, nicht lange, nicht viel. Verabschieden wollte ich mich. Nur verabschieden. Er ist mit mir zum Messeparkplatz gegangen, eine Kiste Wein unter dem Arm. Stellt die Kiste in den Kofferraum, tritt einen Schritt zurück, ich einen vor, schließe den Kofferraum, da berührt er mich am Rücken, seine Hand auf meinem Rücken, ich drehe mich um, er hält mich, dann dieser Kuss, der über uns zusammenschlägt wie Wasser. Ich sinke langsam, mit Leichtigkeit, kann unter Wasser atmen. 

Auf dem Heimweg geriet ich in ein Gewitter. Ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit und von unerwarteter Heftigkeit. Lass es uns langsam angehen, hatte er gesagt und: ich dürfe nicht glauben, dass er mit mir spiele. Blinde Kuh. Blindflug bei verlangsamter Geschwindigkeit. Ich wollte anhalten, abwarten, aber es kam kein Parkplatz mehr. Und so musste ich weiterfahren, immer weiter, wie das Leben weitergeht, wie das Herz weiterschlägt – auch ohne Aussicht. Unterwassersicht. Ich fahre. Gefahr, schreit es in mir, Ausnahmesituation. Der Regen dicht wie ein Vorhang, die Scheibenwischer schaffen es nicht mehr. Das Prasseln auf dem Dach und in meinem Kopf. Ich sitze im Trockenen und doch verschwimmt die Grenze zwischen Außen und Innen. Auch in mir regnet es, Starkregen, Sturzregen, der mir alle Lebensenergie auswäscht, alles mit sich fortträgt, was gut und fruchtbar ist. Gefühlserosion. Zurück bleibt ausgewaschener Stein, ein scharfkantiger Klumpen mit monströsen Zügen. Ich frage mich, wie ich das überleben soll.

Die Sonne tut ihre Arbeit. Seit viereinhalb Milliarden Jahren. Sie strahlt. Eines Tages wird sie verglühen. Das kann man berechnen. Aber weil man es mit menschlichen Maßstäben nicht fassen kann, bleibt einem nur: daran glauben. Glaub es! Wer glaubt, hegt immer einen Funken Zweifel. Ein kleiner Rest, der dafür sorgt, dass man bei aller Überzeugung hofft oder fürchtet, es könnte auch anders kommen. Die Zeit tut ihre Arbeit. Sie vergeht. Sie sei ohne Anfang und ohne Ende, sagt man. Wenn in fünf Milliarden Jahren die Sonne verglüht, endet dann die Zeit? Oder schon lange vorher, weil Zeit ein menschliches Maß ist und mit den Menschen endet? Mit der Zeit vergeht alles. Zeit heilt, sagt man. Draußen brennt die Sonne auf die Weinberge des Duoro, und drinnen in meinem schattigen Zimmer warte ich darauf, dass die Zeit tut, was sie kann. 

Paul macht Vorschläge, seit wir hier angekommen sind. Er hat sich gut vorbereitet, Ausflugsziele herausgesucht, Weingüter, die man besuchen könnte, die besten Erzeuger. Sogar ein paar Brocken Portugiesisch hat er gelernt, uschusch, oschosch, wenn er nicht weiterkommt, hängt er das an die spanischen Wörter, die ihm einfallen. Früher hätte ich ihn damit aufgezogen. Und wir hätten zusammen gelacht. 

Sollen wir dies, sollen wir das?
Ich weiß nicht, wenn du meinst, vielleicht morgen? 
Verstehe, sagt er nachsichtig, nimmt sich ein Buch und geht zur Tür, hält inne. Alles gut?
Ja.
Die Tür fällt zu.

Nichts ist gut. Es ist nicht einmal besser. Alles hat seine Farbe verloren. Georg sitzt neben mir auf dem Bett. Was machst du?, frage ich ihn. Denkst du an mich? Er schweigt. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter legen, aber ich tue es nicht, weil er mir sonst verschwände. Ich würde gerne sein Hemd aufknöpfen, einen Knopf nach dem anderen, und ihm das Hemd über die Schultern streifen und das verwaschene Unterhemd über den Kopf ziehen und immer so weiter, alles abstreifen, den Winzer, den Ehemann, den Vater, den Sohn bis nur noch der Mann übrigbleibt, der Heilige Geist auf dem Bett. Wer sind wir, wenn wir bis auf die Haut ausgezogen sind? 

Leicht sollte man sein, sage ich zu Georg. Alles, was das Leben schwer macht, sollte man abstreifen können. Warum ist das Leben so schwer? Was ist es, das wir aufgehäuft und angesammelt haben, das uns nach unten zieht, am Boden hält, unüberwindbar wie die Schwerkraft?
Ich öffne die Augen und bin allein.

Während Paul am Pool liest, schreibe ich Postkarten. Sie zeigen das Hotel in eindrucksvoller Lage, Steilhang, Unendlichkeitsbecken. Lieber Georg. Jeden Tag legt mir der Zimmerservice eine neue Postkarte auf den Schreibtisch. Ich schicke sie nicht ab. Ich stecke sie unter die Matratze.

Georg liegt zwischen uns in der Nacht. Ich kann ihn riechen. Wenn ich es nicht mehr aushalte, strecke ich meine Hand nach ihm aus. Paul dreht sich zur anderen Seite, ohne zu erwachen.

Paul überrascht mich mit einen Massagetermin im Spa. Du weißt doch, wie furchtbar ich es finde, mich von fremden Menschen berühren zu lassen, sage ich entnervt. Jetzt nutzt er die gebuchte Stunde. Er sagt, ihn entspanne das.

Ich rollte mich auf dem Bett zusammen, die Arme fest um mich geschlungen, meine Lippen berühren meine Knie. Es ist alles noch da, was ich von dir in mir aufgenommen habe. Wie lange lässt sich das bewahren? Ich fürchte den Tag, an dem es nicht mehr zu spüren sein wird. 

Und doch bitte ich dich nicht.
Ich werde dich nicht bitten.

Manuskriptauszug, erschienen in der WORTSCHAU , Magazin für Gegenwartsliteratur, Nr. 40, „Sehnsucht“.