Transatlantischer Dialog 

Alles beginnt mit einer Enttäuschung. Von Kopenhagen über Paris kommend, übermüdet und hungrig, zerrt ein junger Amerikaner seinen Rucksack aus dem Zug. Endlich, denk er. Endlich am Ziel. Zürich ist die einzige Schweizer Station auf seiner Interrailreise durch Europa. Wo sollte man auch sonst hingehen in der Schweiz? Was war das überhaupt für ein Land? Ein Stecknadelköpfchen auf der Landkarte. »Es hat eine Weile gedauert, bis mein Gehirn realisierte, was da auf dem Schild am Bahnsteig stand«, sagt Marty. »Basel. Was zur Hölle war Basel? Ich war stinksauer.« 

Marty grinst. Er sitzt auf meinem Schreibtisch. Genau genommen, sitzt er an seinem Schreibtisch in New York, sein Brustbild schwebt auf meinem Bildschirm. Bei ihm scheint die Septembersonne ins Zimmer, bei mir in Freiburg ist es schon dunkel, in meinem Arbeitszimmer brennt Licht. In unserer gemeinsamen aktiven Zeit bei Roche war Videotelefonie noch eine aufwendige Sache, die in eigens eingerichteten Konferenzräumen mit teurer Technik stattfand und fürs oberste Management des Konzerns reserviert war. Das mittelobere Fußvolk musste sich mit Telefonkonferenzen begnügen. Telefonspinnen auf dem Tisch und Gesprächsteilnehmer, die sich anhörten als wären sie auf dem Weg zum Mars, dabei saßen sie doch nur in Mannheim oder Welwyn. Heute kann man jeden mit ein paar Klicks zu sich nach Hause holen. Seit der Pandemie können das sogar meine Eltern. 

Ich habe Marty in einer Mail von dem Basel-Buch erzählt und dass die Beschäftigung mit der Stadt Erinnerungen aktiviert, an die ich seit Jahren nicht gerührt habe. Manchmal sei ich mir nicht sicher, was davon stimme und was ich mir nur zusammenreime, schrieb ich ihm. Jetzt gleichen wir Erinnerungen ab. Mitunter fühlt es sich an wie ein Veteranentreffen. Weißt du noch dies und weißt du noch das? Und doch hat jeder sein eigenes mentales Album, das voll unterschiedlicher Basel-Bilder steckt. Statt uns Fotos vor die Nase zu halten, erzählen wir, lassen ein Basel auferstehen, das es nicht mehr gibt. Ein Basel? Viele Basel. Baselzeit-Dias. Seine erste Stunde in der Stadt als junger Interrailer: Ein Irrtum. Ich male mir aus, wie er frustriert in der Halle unter dem Matterhorngemälde hockt, unwillig auch nur einen Fuß vors Bahnhofsgebäude zu setzen, und auf den nächsten Zug nach Zürich wartet. 

Wir haben im gleichen Jahr in der Grenzacherstraße angefangen. Konzernleitungsbau. Waren praktisch Büronachbarn. Nur dass ich ein Corporate Rookie war und Marty knapp zwanzig Jahre Roche-Vorsprung hatte. Basel-Rookies waren wir beide. Er brachte seinen schweren Roche-USA-Rucksack mit und ich ein Rollköfferchen mit akademischer und journalistischer Erfahrung. »Ich war damals ganz schön idealistisch unterwegs«, sage ich. »So was I«, sagt Marty, und er habe immer an den gesunden Menschenverstand geglaubt und wenig auf Hierarchien gegeben. »So did I«, sage ich. Überhaupt sei er eher zufällig in die Unternehmenswelt geraten. Früher habe er an dieser Stelle immer gesagt »aus Versehen«, aber nach über dreißig erfüllten Jahren sei diese hübsche Formulierung wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten. »Schade drum,« sagt er. 

Marty ist ein Mann des Wortes. Er liebt es, mit Worten zu arbeiten, Geschichten zu erzählen. Träumte einst von einer Schreibkarriere, New York Times vielleicht. Während er in Woodstock feierte und nicht lange danach durch Europa tourte, habe nichts ferner gelegen als Big Pharma und die Schweiz. Und Basel. What the fuck is Basel? Martys erster geplanter Basel-Besuch fällt in die Anfang Neunzigerjahre. Krisenkommunikation. Vitaminkartell. »Als ich in New York ins Flugzeug stieg, war Basel für mich ein winziger Ort in einem unbedeutenden Kuckucksuhrland, aus dem gelegentlich graue Emissäre mit umständlichen Namen wie Herr Dr. von G. zu uns nach Amerika kamen, um Anweisungen zu bellen,« erzählt er. »In meiner Vorstellung gab es dort nichts als drei Chemieunternehmen, rauchende Schornsteine und einen braunen Fluss, der es kurz zuvor bis in die US-Nachrichten gebracht hatte. Wir hatten das Wort ‚Schweizerhalle‘ gelernt und Berge von verendeten Fischen gesehen.« »Weißt du«, sage ich, »was ich erst kürzlich herausgefunden habe? Der Name ‚Schweizerhalle‘ kommt gar nicht von ‚Lagerhalle, die in der Schweiz liegt und abgebrannt ist‘, sondern von Saline, ein Ort, an dem Salz gewonnen wird. Halle ist ein anderes Wort dafür. Kennt man in Deutschland von Orten wie Schwäbisch Hall oder Bad Reichenhall.« Der Bildschirm-Marty nickt nachdenklich, fährt fort. »Ich lande in Zürich, es geht mit dem Zug nach Basel, ich trete aus dem Bahnhof – und es haut mich um: Die Blumenkästen an den Fenstern, die überquellen vor Geranien, Rot, Rot, wohin man schaut, die alten Torbögen, die den Blick freigeben auf schattige Innenhöfe, das historische Kopfsteinpflaster, die engen Gassen mit den edlen Bekleidungsgeschäften, den Kunstgalerien und Straßencafés. Es ist nichts anderes als schön. Und dann der Fluss, blaugrün, und die Boote und Fähren und der Himmel darüber und die Wolken, die mit dem Strom zu ziehen scheinen, und die bunt beflaggte Steinbrücke, und im Hintergrund die grüne Hügelkette. So geht Liebe auf den ersten Blick.« Die Liebe zu Basel, raunt es in meinem Kopf. 

»Und seitdem wolltest du in die Konzernzentrale kommen«, sage ich laut in mein Computermikrophon, aber Marty verneint. Headquarter. Mit der Stimme imitiert er den Klang, den dieses Wort damals an der stolzen amerikanischen Niederlassung in Nutley, New Jersey, einundzwanzig Autominuten vom Times Square in Manhattan entfernt, hatte: grau und überflüssig. Die bald hundertdreißig Jahre lange Geschichte von Roche in der Schweiz ist nur achtzehn Jahre länger als die von Roche in den USA, seit gut einem Jahrhundert marschieren die Standorte Nutley und Basel miteinander. Ohne uns, wärt ihr nichts! Denkt der eine vom anderen und umgekehrt. Basel – als Synonym für Zentrale – habe man auf Abstand gehalten, sagt Marty. Mindestens eine Armeslänge. Wieso sollten sich die größten Vertriebs- und Marketinghelden im größten Wirtschaftsraum der Welt von jemandem aus einem Kuckucksuhrenland sagen lassen, wie sie ihre Produkte zu vermarkten hätten? Ihm persönlich habe die Idee eingeleuchtet, dass eine global agierende Firma eine globale Strategie und einen einheitlichen Auftritt brauche und diese naturgemäß an der Konzernzentrale ausgeheckt werden. Gesunder Menschenverstand. Kann mit diffusen Verrätergefühlen einhergehen, wenn man zu Schlüssen kommt, die nicht der Mehrheitsmeinung vor Ort entsprechen. »Einst wurden die Verräter von der Mittleren Brücke geschubst und an einem langen Seil gewässert, eine Frühform des Waterboarding«, sage ich passend unpassend. Wie es aussieht, habe ich zu viel recherchiert in den letzten Monaten, jetzt meldet sich mein assoziatives Streberhirn bei jeder Gelegenheit und ruft: Ich weiß was, ich weiß was! Marty wurde als eine Art Verbindungsoffizier vom Hudson an den Rhein berufen mit einer schier pharaonischen Aufgabe, in etwa so wie die Vereinigung Ober- und Unterägyptens: Er sollte helfen, den transatlantischen Roche-Dualismus zu überwinden. Mir als Großkonzern-Rookie erschien das alles schleierhaft. Was ich verstand: Das war nun also ein Expat, einer dieser hochqualifizierten Stadtbewohner auf Zeit mit Arbeitsvertrag im Ausland. Nach Basel lockt man sie mit unschlagbaren Standortvorteilen: Rheinschwimmen, sauberen, sicheren Straßen und dem Versprechen, dass sie Englisch sprechen dürfen. Dann geh doch in die Schweiz! 

Er habe schwer mit sich gerungen. »Taking a leap of faith«, nennt er das Ergebnis seines Entscheidungsfindungsprozesses. Ein Sprung ins kalte Wasser im Vertrauen darauf, dass man schon wieder an die Oberfläche kommen und schwimmen werde. Ob er mal im Rhein geschwommen sei, frage ich ihn. Das habe sich doch während seiner Zeit in Basel regelrecht zum Volkssport entwickelt. Marty wehrt ab, er schwimme in Pools und im Meer, aber nicht in Flüssen. Er liebe es, am Rhein entlangzugehen, er liebe es, mit einer der Fähren über den Rhein zu fahren – aber sich vom Rhein wegtragen zu lassen? Er schweigt. 

Mit dem Englisch sprechen sei das anfangs so eine Sache gewesen. Im Alltag sei er sich vorgekommen, als wäre er auf einer Insel gestrandet, deren Ureinwohner nichts als gibberish beherrschten. Kauderwelsch. Leider habe sich der Eindruck auch nicht gegeben, als er anfing, Deutschstunden zu nehmen. Aber wenigstens hätten die Leute ihn dann verstanden. Erst mit der Fußball-Europameisterschaft sei alles besser geworden. Mein Gehirn versucht diese Aussage zu verarbeiten und malt eine Szene mit dem schaltragenden, fahnenschwenkenden Marty auf der Tribüne des St. Jakob-Stadions, die Schweiz gewinnt ihr einziges Vorrundenspiel gegen eine bereits fürs Viertelfinale qualifizierte portugiesische Mannschaft, ein Basler Bub – manche würden wohl sagen: ein Ausländer mit Schweizer Pass – schießt zwei Tore, Ronaldo keins, aber der schaute an dem Tag nur von der Bank aus zu und ruhte sich für Deutschland aus. »Du interessierst dich doch nicht für Fußball«, sage ich. Marty schüttelt energisch den Kopf. »Habe ich nie, werde ich nie. Ich war auch nie im Stadion. Es war einfach dieses Gigaevent. « Es habe die Stadt verändert. Als hätte es eine Verordnung gegeben, dass sämtliche Basler eine Pflichtschulung in interkultureller Kompetenz durchlaufen müssen. Visit Basel. Und plötzlich sprachen alle Englisch. Wie stark die Wahrnehmung der Realität vom eigenen Hintergrund geprägt ist, denke ich. Mein Erleben dieser Euro 2008 und meine Erinnerungen daran sind ganz andere. »Public Viewing« auf dem Münsterplatz, Riesenleinwände und Tribünen, und die Gelegenheit für uns Deutsche, die zwei Jahre alten schwarz-rot-goldenen Hulaketten und Fähnchen zu recyclen. Ansonsten eher mittelmäßige Stimmung, bis auf den einen Tag, an dem die Holländer die Stadt einnahmen und die Einwohnerzahl über Nacht verdoppelten. Die Rheinpromenade färbte sich orange und Kameras aus aller Welt zeigten angeheiterte Fußballfans, die von der Mittleren Brücke sprangen. Der Hammering Man am Aeschenplatz trug Oranje und sogar der Tinguely-Brunnen soll eingefärbt worden sein. Dass solche Tage eine ganze Stadt verändern können, ist mir damals nicht in den Sinn gekommen. »Na, wenigstens war die Arbeitssprache bei Roche kein Problem«, sage ich. Marty runzelt die Stirn und wiegt den Kopf hin und her. »Erinnerst du dich an unsere erste gemeinsame Abteilungsvollversammlung? « Meine Antwort wird von einer heulenden Sirene in den Straßen New Yorks übertönt. Ich warte, überlege nochmal, dann wiederhole ich: »Vage. Fast gar nicht. War wohl nicht besonders eindrücklich für mich.« »Aber für mich«, sagt er. »Pass auf: Dreißig Menschen sitzen in U-Form in einem Sitzungssaal, Rolf spricht. Auf Deutsch.« »Echt jetzt?«, werfe ich erstaunt ein. Marty fährt fort: »Mein Name fällt. Ich lächele in die Runde. Wahrscheinlich wurde ich gerade vorgestellt, denke ich. Dann geht es reihum, jeder erzählt ein bisschen und reicht den Stab weiter. Als ich an der Reihe bin, bricht es aus mir heraus: Aufgrund meiner Beobachtung in der letzten Stunde, nehme ich an, dass es hier darum geht, von den laufenden Projekten zu berichten, verstanden habe ich nämlich nichts, man möge mir verzeihen, ich mache das jetzt auf Englisch.« Jetzt erinnere ich mich. Was Rolf tatsächlich am Anfang der Sitzung gesagt hatte: Man solle doch von nun an aus Gründen der Höflichkeit und Verständlichkeit in dieser Abteilungsversammlung keinen Dialekt mehr sprechen, sondern Hochdeutsch. Ich schüttle den Kopf und sage: »Stimmt. So war’s. Irre.« 

Was die Sicherheit der Straßen beträfe, habe Basel seine Erwartungen erfüllt, wenn nicht übererfüllt. Wie gewissenhaft dafür gesorgt wird, hat er am eigenen Leib erfahren. Marty will vom Gellert zum Marktplatz mit der Tram. Es ist Samstag, er trägt zivil, keinen smarten Anzug wie sonst, sondern seine geliebte Air-Jordan-Trainingshose, die er sich beim letzten Heimatbesuch im NBA-Shop geleistet hat, schwarz mit einem breiten roten Streifen an der Seite, darüber die schwarze Skijacke. Es ist Winter. Er zieht seinen Fahrschein aus dem Automaten, da hört er eine gebieterische Stimme in seinem Rücken: »Papiere! Papiere!« Er dreht sich um, ein Polizistenpaar steht vor ihm. Er lächelt freundlich und erklärt, er fahre kurz zum Marktplatz, da nehme er doch keine Papiere mit. Sie lächeln nicht. Was er dort mache? Was er hier wolle? Was in seinem Rucksack sei? Seine Antworten scheinen nicht zu genügen. Mitkommen! Sie nehmen ihn mit zum Auto, er muss die Hände auf die Kühlerhaube legen, Beine breit, sie durchwühlen seinen Rucksack. Wo er arbeite? Wo er wohne? Er antwortet. Genügt nicht. Er muss einsteigen, sie fahren zu seiner Adresse, begleiten ihn zur Tür. Mit dem Schlüssel im Schloss dreht sich auch die Situation. »Liebling, wir haben Besuch«, ruft er. Seine Frau bekommt einen Schreck. Da steht die Polizei im Flur und schaut betreten aufs Parkett. Es sei in Ordnung. Nichts da. Jetzt müssen sie sich die Papiere ansehen, den ganzen Packen. Martys Frau besteht darauf. Am Ende bieten sie ihm an, ihn wieder zur Tramhaltestelle zu fahren. »Warum ich?«, will er wissen, bevor er aus dem Auto steigt. Der Polizist braucht einen Moment, bis er sich die englischen Wörter zurechtgelegt hat: »Bad people wear the clothes like this.« Generalverdacht. Wir lachen. Heute sei das für ihn eine gute Anekdote, sagt er, für die Schwarzen in seinem Bekanntenkreis sei das alltäglich. Das habe ihn schon nachdenklich gemacht. 

Es ist die einzige schlechte Basel-Erfahrung, an die er sich erinnern kann. Er überlegt lange. Es fallen ihm anfängliche Irritationen ein, dass sonntags die Läden geschlossen haben, zum Bespiel, nichts von Belang. »Im Grunde war die Zeit in Basel wie ein Traum«, sagt er dann. Fünfzehn Jahre sind er und seine Frau geblieben, dreimal länger als geplant, bis zu seiner Pensionierung. »Wir haben heute mehr Freunde in Basel als in New York«, sagt er. Und dann erzählt er von seiner Vermieterin auf dem Bruderholz, beste Wohnlage in Großbasel. Wie sich die anfänglich strenge, distanzierte Dame und das amerikanisch- chinesische Paar über die Jahre angenähert hätten, von Einladung zu Einladung. Er schwärmt von dem parkartigen Garten im Wandel der Jahreszeiten, den kultivierten Tischgesprächen, die manchmal, befördert vom Wein, vorsichtig ins Persönliche gleiten durften, den Hauskonzerten und gemeinsamen kulturellen Aktivitäten. Er erzählt von den Nachbarn, die erst einen Briefumschlag an die Tür gehängt hätten, in dem ein Foto des Türgriffs war mit dem Hinweis, dies sei ein Türgriff und man solle ihn doch benutzen, um die Tür rücksichtsvoll zu schließen, um dann nach zehn Tagen guter Führung an derselben Stelle einen großen Blumenstrauß zu finden mit einer Einladung zum Abendessen. Er erzählt von echten Picassos in Wohnzimmern, weltbekannten Pianisten auf Besuch und dem schwarzen Mercedes SLK in der Garage. Das Wort »Daig« nimmt er kein einziges Mal in den Mund. Ich weiß nicht einmal, ob er es kennt. Frage auch nicht nach. Unvoreingenommenheit ist ein Segen. Ob er seine Nachbarn für typische Basler gehalten habe? »Keine Ahnung«, sagt er. Jeder sei auf seine Art besonders gewesen. 

Jeden Sommer kommen sie in die Schweiz zurück, gehen wandern in Zermatt und spazieren in Basel am Rhein entlang. »Überwältigend«, sagt Marty. Wenn er »Basel« sagt, dann meint er alles mit, die ganze Schweiz und halb Europa. Paris und Mailand und die Amalfi-Küste gehören genauso zu seinem Basel wie Zürich, das Matterhorn und der Genfer See. Vor allem aber meint er Roche. Ob ihm Basel eine Heimat geworden sei, will ich wissen. Auf der Suche nach einer Antwort, untersucht er erstmal den Begriff. Er nimmt ihn gedanklich zwischen Daumen und Zeigefinger und wendet ihn hin und her. »Ich glaube, Heimat ist für mich persönlich der Ort, an dem ich mich sicher, wohl und geborgen fühle, an dem ich mich auskenne und nicht verlaufe. Also habe ich zwei Heimaten: New York, zwischen der 1st und 100th Street und der 1st bis 11th Avenue, und Basel.« »Weißt du, wer dafür sorgt, dass du dich in der New Yorker U-Bahn nicht verläufst? Eine Schriftart, die in Münchenstein bei Basel erfunden wurde.« Ich erzähle Marty, was ich über Helvetica herausgefunden habe. Da strahlt er.

Aus Platzgründen unveröffentlichtes Kapitel für: Daniela Engist, Mein Basel – Die bewegte Stadt, 8 grad verlag, 2024

Jahresgezeiten

Ich liebe den Herbst mit seinen unvermischten Farben.
Ich liebe das Meer wie es rollt und atmet.
Und ich liebe dich.
Dass der Herbst mich nicht liebt oder das Meer,
ändert nichts. 
So einfach ist das.

Leid tun

Gut aufpassen wollte ich auf das Blaue, das in zwei Hände passt. Sicher sei es bei mir, zärtlich würde ich es bewachen, hätte ich dir gesagt, wenn du es hättest hören wollen.

Und dann dieser Schmerz, der mich unvorbereitet traf. Zusammenkrümmen musste ich mich und unwillkürlich die Hände schützend vor die Magengrube nehmen.

Dabei ist es mir hinuntergefallen und in tausend Scherben zerbrochen. Leid tat mir das. Und ich ging in die Knie, trotz der Gefahr, dass auf meiner nackten Haut tausend Narben bleiben würden. Und wie ich mich hinunterbeugte, sah ich, es waren Eiskristalle, die eilig schmolzen und verdampften.

Jetzt ist es weg, das Blaue. Aber du musst nicht traurig sein, denn es war nie deins, immer nur meins, und du wirst sehr gut weiterleben ohne und so zufrieden sterben wie du dir das wünschst. Wenn ich Glück habe, gehört das Blaue zu den Körperbestandteilen, die nachwachsen. Vielleicht alle fünfzig Jahre.

wieviel blau verschwendest du

am strand gibt es nur blau und gold.
und gäbe es die sonne nicht, dann gäb es auch kein blau.
und der sand kommt aus dem meer und das meer
holt sich den sand zurück. ein blaugoldener kreislauf.
so alt wie die erde selbst. 
ein zeitloser ort ist so ein strand.

Weiß (ich)

Was vor mir liegt ist weiß. Weiß wie? Wie eine unberührte Schneefläche, eine Salzwüste, ein Blatt Papier, ein neues Notizbuch. Warum suche ich nach einem Vergleich? Kaum hingeschrieben, gerinnt er schon zu einer abgedroschenen Metapher.

Du trägst etwas Blaues in dir, schrieb ich dir. Es ist nicht besonders groß und passt in zwei hohle Hände. Mal scheint es fest wie Glas, mal wie ein Wassertropfen, der Gefahr läuft zu zerfließen, wenn man ihn berührt. Wenn du nicht achtgibst, sieht man es durch deine Augen. Aber meistens bist du auf der Hut und dann sind deine Augen einfach nur blau und du benutzt sie wie einen Spiegel, in dem du andere nichts als sich selbst sehen lässt.

Was hinter mir liegt, ist mir gewiss, und was vor mir liegt, macht mir keine Angst. Ich weiß jetzt, welche Farbe ich in mir trage.

Die Farbe der Sonne

Warum hat er mich nochmal so geküsst? Er hätte mich nicht so küssen müssen. Es gibt Küsse, auf die ist man vorbereitet. Man steht beieinander und spürt die Anziehung schon vorher, man spürt die Möglichkeit, den Abstand aufzugeben, die Spannung, die sich aufbaut – und dann das Nachgeben, der kurze Moment bevor sich die Lippen berühren. Die Schutzschicht der Lippen ist äußerst verletzlich, nur drei, vier Zellschichten dick, ein hauchdünnes Plattenepithel, durchscheinend. Das Rot, das Lippenrot, das machen die Blutgefäße. Alles sieht und spürt man durch diese dünne Schicht hindurch, das Leben des anderen, das mit dem Blut durch den ganzen Körper geht, nirgends kommt man sich so nah wie an den Lippen. Blanke Nervenenden. Alles kann über sie eindringen, sie sind schutzlos. Lippenherz nennt man die Vertiefung der Oberlippe, man meint nur die äußere Form und täuscht sich nicht. Kein Wort lässt sich bilden ohne die Lippen. Mit Worten kann man lügen, ohne Worte kann man lügen. Aber mit solch einem Kuss? Der Körper spricht ohne Worte.

Auf diesen Kuss war ich nicht vorbereitet. Wir hatten gesprochen, nicht lange, nicht viel. Verabschieden wollte ich mich. Nur verabschieden. Er ist mit mir zum Messeparkplatz gegangen, eine Kiste Wein unter dem Arm. Stellt die Kiste in den Kofferraum, tritt einen Schritt zurück, ich einen vor, schließe den Kofferraum, da berührt er mich am Rücken, seine Hand auf meinem Rücken, ich drehe mich um, er hält mich, dann dieser Kuss, der über uns zusammenschlägt wie Wasser. Ich sinke langsam, mit Leichtigkeit, kann unter Wasser atmen. 

Auf dem Heimweg geriet ich in ein Gewitter. Ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit und von unerwarteter Heftigkeit. Lass es uns langsam angehen, hatte er gesagt und: ich dürfe nicht glauben, dass er mit mir spiele. Blinde Kuh. Blindflug bei verlangsamter Geschwindigkeit. Ich wollte anhalten, abwarten, aber es kam kein Parkplatz mehr. Und so musste ich weiterfahren, immer weiter, wie das Leben weitergeht, wie das Herz weiterschlägt – auch ohne Aussicht. Unterwassersicht. Ich fahre. Gefahr, schreit es in mir, Ausnahmesituation. Der Regen dicht wie ein Vorhang, die Scheibenwischer schaffen es nicht mehr. Das Prasseln auf dem Dach und in meinem Kopf. Ich sitze im Trockenen und doch verschwimmt die Grenze zwischen Außen und Innen. Auch in mir regnet es, Starkregen, Sturzregen, der mir alle Lebensenergie auswäscht, alles mit sich fortträgt, was gut und fruchtbar ist. Gefühlserosion. Zurück bleibt ausgewaschener Stein, ein scharfkantiger Klumpen mit monströsen Zügen. Ich frage mich, wie ich das überleben soll.

Die Sonne tut ihre Arbeit. Seit viereinhalb Milliarden Jahren. Sie strahlt. Eines Tages wird sie verglühen. Das kann man berechnen. Aber weil man es mit menschlichen Maßstäben nicht fassen kann, bleibt einem nur: daran glauben. Glaub es! Wer glaubt, hegt immer einen Funken Zweifel. Ein kleiner Rest, der dafür sorgt, dass man bei aller Überzeugung hofft oder fürchtet, es könnte auch anders kommen. Die Zeit tut ihre Arbeit. Sie vergeht. Sie sei ohne Anfang und ohne Ende, sagt man. Wenn in fünf Milliarden Jahren die Sonne verglüht, endet dann die Zeit? Oder schon lange vorher, weil Zeit ein menschliches Maß ist und mit den Menschen endet? Mit der Zeit vergeht alles. Zeit heilt, sagt man. Draußen brennt die Sonne auf die Weinberge des Duoro, und drinnen in meinem schattigen Zimmer warte ich darauf, dass die Zeit tut, was sie kann. 

Paul macht Vorschläge, seit wir hier angekommen sind. Er hat sich gut vorbereitet, Ausflugsziele herausgesucht, Weingüter, die man besuchen könnte, die besten Erzeuger. Sogar ein paar Brocken Portugiesisch hat er gelernt, uschusch, oschosch, wenn er nicht weiterkommt, hängt er das an die spanischen Wörter, die ihm einfallen. Früher hätte ich ihn damit aufgezogen. Und wir hätten zusammen gelacht. 

Sollen wir dies, sollen wir das?
Ich weiß nicht, wenn du meinst, vielleicht morgen? 
Verstehe, sagt er nachsichtig, nimmt sich ein Buch und geht zur Tür, hält inne. Alles gut?
Ja.
Die Tür fällt zu.

Nichts ist gut. Es ist nicht einmal besser. Alles hat seine Farbe verloren. Georg sitzt neben mir auf dem Bett. Was machst du?, frage ich ihn. Denkst du an mich? Er schweigt. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter legen, aber ich tue es nicht, weil er mir sonst verschwände. Ich würde gerne sein Hemd aufknöpfen, einen Knopf nach dem anderen, und ihm das Hemd über die Schultern streifen und das verwaschene Unterhemd über den Kopf ziehen und immer so weiter, alles abstreifen, den Winzer, den Ehemann, den Vater, den Sohn bis nur noch der Mann übrigbleibt, der Heilige Geist auf dem Bett. Wer sind wir, wenn wir bis auf die Haut ausgezogen sind? 

Leicht sollte man sein, sage ich zu Georg. Alles, was das Leben schwer macht, sollte man abstreifen können. Warum ist das Leben so schwer? Was ist es, das wir aufgehäuft und angesammelt haben, das uns nach unten zieht, am Boden hält, unüberwindbar wie die Schwerkraft?
Ich öffne die Augen und bin allein.

Während Paul am Pool liest, schreibe ich Postkarten. Sie zeigen das Hotel in eindrucksvoller Lage, Steilhang, Unendlichkeitsbecken. Lieber Georg. Jeden Tag legt mir der Zimmerservice eine neue Postkarte auf den Schreibtisch. Ich schicke sie nicht ab. Ich stecke sie unter die Matratze.

Georg liegt zwischen uns in der Nacht. Ich kann ihn riechen. Wenn ich es nicht mehr aushalte, strecke ich meine Hand nach ihm aus. Paul dreht sich zur anderen Seite, ohne zu erwachen.

Paul überrascht mich mit einen Massagetermin im Spa. Du weißt doch, wie furchtbar ich es finde, mich von fremden Menschen berühren zu lassen, sage ich entnervt. Jetzt nutzt er die gebuchte Stunde. Er sagt, ihn entspanne das.

Ich rollte mich auf dem Bett zusammen, die Arme fest um mich geschlungen, meine Lippen berühren meine Knie. Es ist alles noch da, was ich von dir in mir aufgenommen habe. Wie lange lässt sich das bewahren? Ich fürchte den Tag, an dem es nicht mehr zu spüren sein wird. 

Und doch bitte ich dich nicht.
Ich werde dich nicht bitten.

Manuskriptauszug, erschienen in der WORTSCHAU , Magazin für Gegenwartsliteratur, Nr. 40, „Sehnsucht“.

Déjà-vu

Jetzt hatte ich doch gedacht, an manchen Stellen in meinem Leben ein bisschen weitergekommen zu sein, zum Beispiel den Idealismus der Anfang-30er-Jahre durch eine gesunde, pragmatische Haltung ersetzt zu haben. Es ist wie es ist. Stein rollen und ein glücklicher Mensch sein.

„Nur nicht den Idealismus verlieren“, sagte einer meiner frühen Chefs aus der Konzernleitungsetage einmal, nachdem er eine meiner zahlreichen Schnapsideen abgebügelt hatte – mit väterlicher Nachsicht, wie mir damals schien, oder machte er sich doch über mich lustig? Schwer vorstellbar, denn nichts war ihm wesensfremder als das Stilmittel der Ironie. Lustig machte er sich höchstens heimlich. Nicht den Idealismus verlieren, das ist einer dieser beiläufig formulierten Sätze, die das Potenzial haben, einen ein Leben lang zu begleiten. Oder zu verfolgen.

Ironie war lange das Mittel meiner Wahl, mehr sanfter Spott – in der Hoffnung, die anderen würden schon irgendwann mal merken, dass … – als böser Sarkasmus. Das Bittere ist nicht in mir angelegt. Bevor ich den Schritt in die Verbitterung hinein gehe, ziehe ich mich zurück. Allerdings leckt die bittere Suppe dann meist schon an meinen Zehen. Was wiederum mit dem Idealismus zu tun haben muss, der sich partout nicht verlieren will und mich vielleicht mitunter länger ausharren lässt als mir guttut.

Ist das mit dem Schreiben also nun eine Schnapsidee?

In jedem Fall ist es ein Dilemma: Man muss sich ganz hineinbegeben, wenn’s was werden soll, und soll doch gleichzeitig Abstand wahren, wenn man bei Trost bleiben will. Man muss sich die Seele aus dem Leib schreiben und soll doch stets über allem stehen, was danach damit passiert. Oder nicht passiert. Wasch mich, aber mach mich nicht nass! Klassischer Double-bind. Führt bei passender Prädisposition direkt in die Klapse.

Fertig

Wann weiß man eigentlich, wenn man fertig ist?

Ich bin fertig mit etwas. Das ist was anderes als zu sagen: Etwas ist fertig. Es ist fertig. Ich bin fertig. Damit.

Unlust ist ein hinreichend sicheres Zeichen. Da ist so ein Text, auf den hat man keine Lust mehr. Macht einen Bogen drum im Computerverzeichnis. Will ihn nicht mehr aufrufen. Und wenn man es doch tut, scrollt man lustlos bis zum Ende und schließt ihn wieder. Manchmal bleibt man vorher noch an einem „eigentlich“ oder „halt“, „ja“, „irgendwie“ hängen und löscht es. Manchmal bereut man das im nächsten Moment, ruft das Dokument wieder auf und macht den Vorgang rückgängig. Vor, zurück. Geht, geht nicht. Geht nicht mehr.

Ein bisschen bang ist einem ob der Unlust. Vielleicht ist der Text ja auch einfach nur schlecht? Oder nicht gut genug. Der Verdacht kommt auf.

Bei einer Geburt, sagen die Hebammen, gäbe es oft diesen Punkt, an dem die Frauen sagten, sie hätten jetzt keine Lust mehr. Mir reicht’s jetzt. Es reicht. Das sei kurz bevor das Kind komme.

Seezauber

I

Also fahre ich alleine an den See und kippe den Rest meines vollen Herzens hinein zu dem schlechten Gewissen, das schon darin schwimmt. Es gibt ja sonst keinen Ort, wo er hingehört und wo er bleiben könnte. Sicher ist er schwer genug, um alles mitzuversenken, was lange unsinkbar schien. Mir wird‘s ganz leicht werden mit dem See im Rücken. Und auch mit geschlossenen Augen, werde ich am anderen Ufer nichts mehr sehen als Nebel und Berge und Himmel.

II

Heute kann ich ihn sein lassen, deinen See. Den See, von dem du sagst, er sei nicht deiner, den ich zu deinem See gemacht habe, weil er einmal unser See war. Ich kann ihn sein lassen. Und die Berge auch. Die vielleicht deine sind. Aber bestimmt nicht meine.

III

Ich kann Orte verschwinden lassen! Dazu muss ich noch nichteinmal das magische Denken bemühen, das du mir schon vor langer Zeit verboten hast. Bald werden mir die Ausreden an den See zu fahren ausgehen. Auszug. Wegzug. Kann nicht mehr behaupten, ich käm nicht wegen dir und fragte nur, weil es sich so ergibt, ob du vielleicht, ob wir uns.
Frag ruhig, sagst du, es könnte sonst passieren, dass du mir untergehst.
Wie oft hab ich dein Schweigen schon verflucht? Wollt‘ Sätze von dir haben. Doch diesen hättest du behalten sollen. Ich komm nicht wieder, außer du sagst: Komm! Die Orte verschwinden mit den Menschen – wenn einer wegzieht oder untergeht.
Das wär doch schade, sagst du. Ich versteh dich nicht. Oder zu gut.

IV

Ein Zebra ist an den See gekommen. Genau genommen, war es wohl schon lange da. Wir hatten ihm nur andere Namen gegeben. Pferdenamen. Wer eine Rossnatur hat, denkt bei Hufgetrappel an Pferde. Jetzt hilft nur noch eine Rosskur, aber vielleicht nicht mal mehr die. Pfui! Schäm dich, so zu denken. Siehst du, noch immer leidest du an Allmachtsphantasien und meinst, mit deinen Gedanken den Lauf der Welt beeinflussen zu können.

V

Ich hab im See nach dem schlechten Gewissen getaucht. Da standest du schon am Ufer. Du, vor dem dunklen Wald. Ich nahm dein Bild mit hinunter. Das Wasser war trüb. Nichts zu sehen. Dann erst schwamm ich dir nach, schwamm auf dich zu. Du mit den Füßen im Kies, hell vor dem dunklen Wald, ich vorsichtig balancierend über die glitschigen Steine. Etwas Misstrauisches hat sich auf meine Haut gelegt. Deine Hand auf meinem Rücken hat es nicht weggewischt, sondern eingerieben. Wir haben beide wieder ans Küssen gedacht. Die Fähre musste ich dreimal nehmen, weil du dich bei mir vergessen wolltest. Das Zebra hat den Kopf geworfen und mich vorwurfsvoll angesehen.