Läuft und läuft und läuft

Die am häufigsten gestellte Frage an eine Autorin ist nicht etwa die nach dem autobiografischen Anteil des Werks oder ob dies oder das tatsächlich so oder so ähnlich gewesen sei und schon gar nicht die nach einem wie auch immer gearteten ästhetischen oder poetischen Programm, sondern: „Wie lange haben Sie an dem Buch geschrieben?“ Diese Frage kehrt mit einer äußerst zuverlässigen mich inzwischen nicht mehr überraschenden aber noch immer irritierenden Hartnäckigkeit wieder. Neue Lesung, neue Gesichter, alte Frage. Nun gut, es ist ein recht dickes Buch. Da kann man sich schonmal fragen, wie lange … Die Antwort habe ich unterdessen als Mitternachtswissen parat: einundzwanzig Monate, halbtags von neun bis dreizehn Uhr. Ich habe nämlich recherchiert.

Seit kurzem aber – das Ganze setzte so etwa drei Monate nach dem Buchhandlungsauslieferungstermin ein –, scheint sich jeder vor allem für eines brennend zu interessieren: „Wie läuft’s?“

Urs Huber würde natürlich augenzwinkernd, zahnfleischlächelnd und im Staccatoschritt vorbeieilend sagen: „Geht’s gut?“

Jetzt könnte man darauf eine ganze Reihe von möglichen Antworten geben, je nachdem auf was diese kleine, harmlos formulierte Frage so alles abzielt:

Kaufen Menschen das Buch? Kaufen viele Menschen das Buch? Wie finden die Menschen das Buch? Reden Menschen über das Buch? Wird das Buch besprochen? Wird das Buch gut besprochen? Machst du Lesungen? Machst du viele Lesungen? Wie ist die Resonanz bei den Lesungen? Ist der Verlag zufrieden? Bist du zufrieden?

Fühlt sich ein bisschen an wie Quartalsbericht: In einem insgesamt rückläufigen Markt haben sich die Verkaufszahlen des neu eingeführte Produkts im Vergleich zum Vorjahreszeitraum signifikant verbessert. Haha.

Springer auf 1A

Wenn das Laub fällt, wirbelt der Wind durch den großen Literaturwald. Wer jetzt keine Lesungen hat, bekommt keine mehr. Dummerweise sind fast alle warmen Plätzchen schon seit Frühjahr vergeben. Und auf die Debütantinnen hat – anders als bei Wiener Opernball – schon gar keiner gewartet. Wo sich der Laubhaufen für wenige Tage auftürmt, bevor sich die Blätter wieder in alle Winde zerstreuen, ist die Frankfurter Buchmesse.

Vor drei Jahren war ich dort zuletzt – zum ersten Mal überhaupt. Damals bin ich durch die Hallen geschlichen (wo man den Wald vor lauter Bäumen nicht und so weiter) mit dem Kainsmal derer, die möglicherweise ein unaufgefordert erstelltes Manuskript mit sich tragen, auf der Stirn. Dabei hatte ich gerade mal 70 Seiten zu Papier gebracht und keine einzige davon dabei. Mit einer mehrfach falschen Identität – als IT-Beauftragte eines Züricher Kunstbuchverlags – und akribisch vorbereitet mischte ich mich unters Fachpublikum. Wem sollte ich auflauern? Welche Verlage überfallen? Doch wann immer ich mich einem von mir ausgeguckten Stand näherte, schien es von hinter den Büchermauern zu schallen: „Weiche Satan!“ Fallgitter runter, Zugbrücken hoch. Letztlich bin ich ganze drei Attacken geritten, auf kleine Gelegenheitsziele, mit achtbarem Erfolg. Ansonsten verfolgte ich das große Literaturschach vom Spielbrettrand aus, umkreiste die Könige und Türme und blickte neidvoll auf die vielen kleinen Bauern. Könnte ich nicht wenigstens auch so ein kleiner Bauer sein?

Drei Jahre später: Ich nehme demütig zur Kenntnis, dass nicht alle der 20.000 deutschsprachigen Neuerscheinungsautoren in fünf Tagen Buchmesse lesen können, und bin stolz, dass ich als kleines Debütanten-Bäuerlein am Stand von Klöpfer & Meyer mit meinem Roman Spalier stehen werde. Aber dann: Am Tag vor der Messe-Eröffnung klingelt das Handy. Ich mit den Kindern auf dem Weg zur Klavierstunde, aus Autoradio quakt zum fünften Mal hintereinander Wer hat an der Uhr gedreht?, Paulchen, Paulchen, mach doch weiter, jubelt es von der Rückbank, der Herbstregen prasselt, ich fahre kurz rechts ran. Ob ich den Springer machen könne? Eine Stunde Lesung und Gespräch mit einem medialen Großmeister des Feuilletons, im Haus des Buches, Sitz des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Damentausch: Daniela gegen Nina. Die weiße Königin mit ihrer zarten und schrecklichen Geschichte eines nicht gelebten Lebens ist leider krank. Und also spielen wir, Gerwig Epkes vom SWR, der es tatsächlich geschafft hat, meine 384 amüsanten und schrecklichen Seiten über ein falsch gelebtes Leben in drei Tagen oder Nächten zu verschlingen, und ich. Zug um Zug vor den von Nina geborgten Zuschauern, Zuhörern. Ich schicke Dank und Gruß an die weiße Königin und bilanziere: Keiner ist gegangen, keiner ist eingeschlafen, und es gab sogar ein paar verkaufte Exemplare für den Verlag.

Unendliche Weiten

Jetzt ist er also raus, der Roman, und ich versuche aus meiner Schlüssellochperspektive in die weite Welt zu linsen, um zu sehen, wie es ihm wohl so ergeht, dem Sprössling. Ich pilgere zur örtlichen Buchhandlung und schleiche um den kleinen Tisch in der Belletristik-Abteilung. Da liegt es, das Kindlein, zwischen „Unsre Frau in Pjöngjang“ und „Lola“! Moment mal, wusste gar nicht, dass meine Figur Carola „Lola“ Pardus schon ihr eigenes Spin-off-Buch hat … Im Hintergrund grüßt passend  „Der große Wahn“.

Getrieben von der Hoffnung auf Widerhall füttere ich das große schwarze Loch, in dem Harald Klein und seine Kollegen verschwunden sind, mit E-Mails, Social-Media-Posts und  Visitenkärtchen. In meinem Kopf spuken Marketingkennzahlen aus meinem früheren Leben herum – Response-Rate, Conversion-Rate – aber, wenn ich ehrlich bin, dann ist das wohl der Versuch, der irrationalen Erwartung, dass jeder nur auf mein Buch und auf die Gelegenheit, mir mit mehrseitigen Lobpreisungen zu antworten, gewartet hat, eine rationale Erklärung entgegenzusetzen, warum das eben nicht so ist.

Um so feierlicher ist es mir dann zumute, wenn tatsächlich mal ein Lichtstrahl durchs Schlüsselloch fällt. Eine Bekannte schreibt (ganz von allein) von ihrer „Ehrfurcht vor der Wortgewandtheit und dem Wortwitz der Autorin“, ein Freund, der sonst eher zur kritischen Sorte gehört, vermeldet, dass sich das Buch zum echten Pageturner entwickle und obwohl er eigentlich keine Zeit zum Lesen habe, sei er schon auf Seite dreihundertpaarunddreißig …

Ein noch viel größeres Rätsel ist aber, was sich jenseits der von mir persönlich erreichbaren Spähren abspielt? Wie schafft man es über die innersten konzentrischen Familien- , Freundes- und Bekanntenkreise hinaus?

Wie kommt eine Autorin, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat, in die unendlichen Weiten des Literaturbetriebs?

Natürlich gibt es eine erfahrene Verlags-Crew, die schon seit Jahren in diesem Universum herumschippert: Captain Klöpfer, erster Offizier Schuska, Kommunikationsoffizier Rieger und Quartiermeister Fecke. Während die allerdings auf der Brücke sitzen, muss ich mich mit den Logbucheinträgen begnügen, die mich gelegentlich erreichen.

Da sind wir schon wieder beim Schlüsselloch, und durch dieses bombardiere ich die Damen vom Verlag mit nahliegenden und abseitigen Vorschlägen, wohin man medial und eventtechnisch noch steuern könnte. Und nebenbei werfe ich ab und zu selbst eine Flaschenpost vom Raumschiff. Nützt’s nichts, so schadet’s doch auch (hoffentlich) nicht.

In Zeiten des Umbruchs

Mit dem Umbruch brechen neue Zeiten an: Verwandlung durch Formgebung, Evolution mit Quantensprung (der in seiner physikalischen Ursprungsbedeutung bei weitem nicht groß ist, wie uns unsere Freunde aus dem Marketing weismachen wollen, dafür umso bemerkenswerter). Text wird zum Buch, bekommt sein Medium, reiht sich ein in die 20.000 belletristischen Neuerscheinungen des Jahres. Damit könnte man eine Bücherschlange vom Siegesdenkmal bis zum Martinstor bauen, die ganze Kaiser-Joseph-Straße entlang.

Mit der äußeren Verwandlung geht eine innere Distanzierung einher, ein Befremden, das noch verstärkt wird durch immer neue Korrekturleserunden, die sich wie konzentrische Kreise verengen, in denen der Sinnzusammenhang zusammenschnurrt auf das Schriftbild einzelner Wörter bis hin zum Einzelzeichen. Der Bleistift fährt die Zeilenenden entlang und stammelt Dadaistisches:

etwas zum Harald Hände üppigen und hin- war nicht gehauen – deutete traum- tat war. auf und der kurz blick- Augen Glaubens- professio- Konzernleitungsbau.

Wiederholung bis zur Bedeutungsentleerung. Am Ende kann man Richtig nicht mehr von Falsch unterscheiden. Höchste Zeit, den völlig zerlesenen Text loszulassen. Jetzt muss er raus, nur noch raus, egal wie! Im Geburtskanal gibt es bloß eine Richtung. Allerdings heißt es drucken statt pressen. Den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen!

Mit etwas Abstand wird sich hoffentlich schon zeigen, dass etwas Ordentliches dabei herausgekommen ist. Die Erfahrung stimmt mich zuversichtlich: Wie schrecklich ungenügend fand ich am Ende meine Doktorarbeit, aber als ich sie nach zehn Jahren einmal wieder zur Hand nahm, war ich höchst erstaunt, dass ich jemals so etwas Gelehrtes von mir gegeben hatte. Oder war ich das gar nicht?