Kurvendiskussion mit „C“

Es ist wie mit den Fallzahlen, exponentielles Wachstum eben. Freunde mit naturwissenschaftlichem Hintergrund, die sind dieser Tage besonders gefragt, haben mir das Kurvenphänomen inzwischen ausgiebig erklärt. Weil das die normalen Leute doch nicht verstünden. Und die Kulturschaffenden schon gar nicht. Die könnten ja auch nicht rechnen, denn sonst hätten sie sich nie auf so ein Leben eingelassen, bei dem man von der Hand in den Mund lebt, so wie die Maus Frederick, und sich dann wundert, wenn in Krisenzeiten keine Reserven da sind. Hätte man wissen können, Erstauflage 1967, in unserer Generation bereits Kindergartenpflichtlektüre. Aber ist es am Ende nicht Frederick, der den anderen …

Ah, Mist, jetzt ist es schon passiert. Das wollte ich doch vermeiden, über Bücher und Lesen in diesen Zeiten zu schreiben. Lektüreempfehlungen haben Hochkonjunktur, Loblieder auf das Lesen und die Literatur als fast schon in Vergessenheit geratenes Hausmittel, das nun eine so glückliche Renaissance erfährt, erfahren könnte in Corona-Zeiten. Was heißt das eigentlich „Corona-Zeiten“? Ist das wie mit Christi Geburt? Wird es eine Zeit vor und nach Corona geben, A.C., ante coronam, und P.C., post coronam? Und wann fängt denn „nach Corona“ an? Egal, muss ich mal mit J. videotelefonieren, der ist Professor für neuere und neuste Geschichte und hat grad Zeit für Erklärungen. Obwohl, vor ein paar Tagen erschien er mir doch ein bisschen gestresst, weil das ganze Sommersemester jetzt irgendwie online laufen muss. Ich schweife ab. Das passiert, wenn man viel Zeit hat.

Zeit haben wir Schreibenden ja jetzt, noch mehr Zeit als sonst. Zumindest dachten wir das. Kaum zu glauben, dass wir noch nicht einmal drei Wochen in „diesen Zeiten“ leben. Wobei ich wieder über das Datierungsproblem stolpere. Bis wann genau war nochmal „vor Corona“? In meiner Erinnerung gab es irgendwann am gefühlten Anfang ein, zwei Tage des kollektiven Schweigens. War das nach Merkels Fernsehansprache? Als hätte es allen die Sprache verschlagen. Schaurig war das. Und schön. Seitdem konnte man Tag für Tag beobachten, wie die Maschinerie wieder ins Laufen kam.

Jetzt, da sich der erste Schock über die abgesagten Lesungen und Buchmessen gelegt hat, gefolgt von der Aufregung über die verschobenen Bücher, in den Herbst, ins Frühjahr, jetzt, da wir nach einer kurzen Phase der Resignation die Chance in der Krise zu sehen gelernt haben und die Sonne wieder scheint, jetzt richten wir alle unsere Blicke nach draußen und nach innen. Wir sitzen auf unseren Balkonen oder in unseren Gärten, in unseren Arbeitszimmern oder am Küchentisch mit Blick ins Grüne, aufs Nachbarhaus, den Innenhof, die Straße. Und schreiben. Monothematisch. Multimedial.

Wer gleich zu Anfang seine Sprache wiederfand, oder wenigstens irgendeine Sprache, mit der sich schnell ein paar Sätze formulieren ließen, hatte die besten Chancen wahrgenommen zu werden. Und plötzlich ging es steil nach oben, Verdoppelung in fünf, vier, drei Tagen: Corona-Tagebücher, Corona-Romane in Echtzeit, Corona-Gedichte, Corona-Essays, Corona-Online-Theaterstücke. Dabei sein! Du musst dabei sein! Nicht verpassen! Was wirst du sagen, wenn die Nachwelt einst fragt: Was hat du geschrieben als … ?

Langsam wird es eng. Vermutlich wurde inzwischen jeder noch so kleine Teilaspekt von „Corona“ aus jedem erdenklichen Blickwinkel beleuchtet, wurde in alle Richtungen gebunden und frei assoziiert, gedichtet, berichtet, verarbeitet, wurde das Phänomen, das Wort, die Umstände, die Folgen, die Emotionen durchdekliniert, seziert, eingeordnet, illuminiert. Es ist, als hätten alle eine Hausaufgabe bekommen, zu bearbeiten im kollektiven Hausarrest, das Thema für den größten Literaturwettbewerb aller Zeiten.

Höchste Zeit, dass ich auch mal was über Corona schreibe. Bevor die Kurve abflacht.